ie letzte Wunderwaffe liegt wie ein gestrandeter Wal im
Geröll. Ihr völlig verrosteter Stahlleib ist aufgeplatzt:
Treibstofftanks, Aggregate, Leitungen liegen frei - die „V1“.
Mit ihr und mit der „V2“ wollte Hitler den Krieg
gewinnen, London in Schutt und Asche legen.
Tief im Berg ist es totenstill. Hier, im unterirdischen KZ „Dora“
im Harz, nördlich von Nordhausen, befand sich von 1943 bis 1945
eine streng geheime V-Waffen-Schmiede, bombensicher untergebracht in
einem alten Bergwerk. Häftlinge mußten dafür mehr als
40 neue Stollen in den „Kohnstein“ schlagen.
„Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagt Bergführer
Lothar Dornbrack und stampft über das Geröll zurück
durch einen unterirdischen Felsendom zu einem Schlauchboot. Der
Schein seiner Grubenlampe tanzt wild über die verrußten
Felswände. In einer Ecke liegen die Hülsen für
V1-Sprengköpfe, zwei Holzwagen stehen herum, dazwischen
Raketen-Kleinteile.
„ümmern Sie sich nicht um menschliche Opfer“,
lautete seinerzeit die Anweisung von SS-Mann Hans Kammler an seine
„Baubrigaden“. Schon die ersten Häftlinge sahen
monatelang kein Tageslicht mehr. Viele starben an Entkräftung,
Tuberkulose oder Lungenentzündung. Der Staub von Sprengungen
hing in der Luft, legte sich auf die Augen, kroch in die Nase,
verklebte die Atemwege.
Ein amerikanisches Gericht stellte 1947 beim
„Dora-Kriegsverbrecherprozeß“ fest: Viele
Häftlinge urinierten aus Verzweiflung in die Hände, wuschen
sich damit wenigstens das Gesicht. Zwar führte eine
Wasserleitung durch das Konzentrationslager. Doch wer es wagte, sich
mit Leckwasser zu waschen, wurde von der SS geschlagen.
ach nur vier Monaten startete die erste V1-Rakete in Richtung
London. Der Führer ließ weitere Häftlinge in
Nordhausen zusammenziehen: Polen, Russen, französische
Zivilisten und die Juden des eigenen Volkes. Insgesamt überlebten
20 000 Menschen das Lager nicht. Schon wer eine Schraube oder ein
Werkzeug fallenließ, konnte als Saboteur gelten. Viele wurden
an den Kränen und Flaschenzügen über der
Produktionsstraße aufgehängt, andere wurden bei
Lagerveranstaltungen zu den Klängen einer Musikkapelle getötet.
Die beiden Öfen des Lager-Krematoriums brannten fast ohne
Unterbrechung. Und trotzdem: Im Frühjahr 1945 wurden viele
Leichen des Nachts auf Scheiterhaufen verbrannt. Die Häftlinge
starben buchstäblich in Minutenabständen. Erst 1945 räumten
amerikanische Truppen das KZ „Dora“. Wissenschaftler wie
Wernher von Braun, der „Vater der Mondrakete“, wurden in
die Vereinigten Staaten gebracht.
Später tauschten Amerikaner und Russen Westberlin gegen
Thüringen ein. Die Sowjets bemächtigten sich schnell der
Reste und begannen mit ihrem eigennem Raketenprogramm. Schließlich
versuchten sie, die Stollen zu sprengen, doch alle Versuche waren
vergeblich. Die Stollen hielten der mächtigen Explosion stand.
och heute droht dem Geschichtsdenkmal eine andere Gefahr: Der
Tagebau der Harzer Anhydritwerke gräbt sich Tag für Tag
näher an die alten Stollen heran. Immer wieder lösen sich
in den Kammern Felsbrocken, begraben Stück für Stück
dunkelster Geschichte unter sich. Trotz heftiger Proteste von
verschiedenen Seiten geht die Anhydrit-Produktion weiter –
Arbeitsplätze seien in Gefahr, heitß es zur Begründung.
Bergführer Lothar Dornbrack bindet das Schlauchboot los und
setzt über einen unterirdischen See. Die Decke des riesigen
Gewölbes ist mit den Grubenlampen kaum auszumachen. Es folgt ein
stundenlanger Fußmarsch zurück ans Tageslicht. Irgendwo in
dem riesigen Areal werden noch Gräber vermutet. Nach einem
Gerücht sollen SS-Schergen Häftlinge lebendig eingemauert
haben.
Marcus Kaufhold 1992
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