...liegt dem Himmel näher - 3100 Meter etwa. Nachts,
in der Kälte ziehen Satelliten am Horizont vorbei. Wie langsam fallende Sterne, auf
einer Flugbahn im tiefen Blau, kaum 700 Kilometer entfernt. Die Luft ist
klar wie ein Eisblock. Salden, der Mönch mit der Digitaluhr redet
leise im dunkeln, sagt: "Wir haben eine andere Zeit". Tausend Jahre ist
Tabo, das buddistische Kloster alt. Der Dalai Lama ist gekommen um das
Millennium zu feiern. Doch was sind tausend Jahre? Und noch eine Frage bleibt:
Wie alt ist Salden, der Mönch wirklich?
Es sind nur ein paar Schritte bis ins Nichts. Hinter Tabo, zwischen Schutt,
Steinen und Geröll beginnt die Sperrzone. Schwer bewaffnete Einheiten
des chinesischen Militärs sind nur ein paar Kilometer weg: Unsichtbar
in der graubraunen Steinwüste an der Grenze zwischen Indien
und Tibet.
Tibet ist besetzt. 1948 kamen die ersten Truppen aus dem Norden. 1959
mußte der Dalai Lama, das geistliche und weltliche Oberhaupt aus dem
Land fliehen. Die Chinesen prügelten, töteten Mönche, zerstörten
Kloster - so Menschenrechts-Organisationen. Und die Tibetpolitk Pekings bleibt
bis heute hart: Allein im Frühjahr 1996 sind 300 Nonnen und Mönche spurlos
verschwunden, sagen Quellen. Im Land der Buddisten bleibt es verboten, ein Bild des Dailai Lama aufzuhängen.
Ein Stück weit hinter Tabo, im Nichts ist der Sauerstoff knapp. Die Höhe macht
das Atmen schwer, es gibt kaum Bäume oder Pflanzen die die Luft filtern.
"Einunddreißig" sagt Salden, der Mönch mit der Digitaluhr.
"Mein Körper ist etwa einunddreißig Jahre alt."
Salden weiß nicht wie oft er schon gelebt hat. Als Buddist glaubt
er an den ewigen Zyklus von Tod und Wiedergeburt. "Ich bin nicht erleuchtet,"
sagt er. "Nur die Erleuchteten wissen von meiner Vergangenheit in den letzten
Jahrhunderten. Doch sie werden nicht darüber reden. Es ist ein Geheimnis."
Im Mondlicht hat seine dunkelrote Kutte die Farbe verloren. Bei jedem
Schritt gibt der Schutt unter seinen Füßen nach.
Für das Desaster
im Jahre 994 war der König von Tibet verantwortlich: 19 Studenten sind gestorben. Nur zwei haben den harten Marsch durch
das Nichts vor über tausend Jahren überlebt. Seine Hoheit
Yeshe Ö, ein begeisterter Buddhist hatte 21 Tibetaner nach Nordindien
geschickt, die Sprache lernen. Der Monarch wollte buddistisches Gedankengut
aus der Region importieren. Einer der beide Überlebenden, Rinchen Zangpo
gründete dann das Kloster Tabo - anno 996.
Tausend Jahre sind keine Zeit. Das Transhimalaya ist die Knautschzone
zwischen dem indischen Subkontinent und Asien. Während der Jahrmillionen der
Kontinentalverschiebungen hat sich die tektonische Platte Indiens vom südöstlichen Teil Afrikas
gelöst und sich auf den asiatischen Kontinent aufgeschoben. Noch heute wächst das
"Dach der Welt" jährlich um ein paar Zentimeter. Allein zwischen 1905
und 1975 wurden in der Region 22 schwerere Erdbeben registriert - Stärke
fünf bis sieben auf der Richterskala.
Wem gehört Tibet? "Mit gehört nichts", sagt Salden, der Mönch
mit der Digitaluhr. "Ins nächste Leben kann ich nur mein spirituelles
Wissen mitnehmen. Der Tod trennt uns von weltlichen Besitz."
Am Tag hat der Dalai Lama in Tabo vor tausenden von Pilgern gesprochen.
Seine Heiligkeit war auch im Radio, auf UKW zu hören. Kein anderer
Sender störte den Empfang im Nichts.
Immer wieder hat sich das Oberhaupt der Buddhisten für einen ausschließlich
gewaltfreien Widerstand gegen die Chinesen ausgesprochen. Doch es gibt
Gerüchte: Vor einem Jahr soll es fünf Bombenanschläge in
der tibetanischen Hauptstadt Lhasa gegeben haben.
Salden, der Mönch mit der Digitaluhr, dreht seine Gebetskette,
brummt im Laufen. Wind kommt auf, bläst ihm Staub ins Gesicht. Manchmal
regnet es monatelang nicht in der Gegend um Tabo. Frage:"Gibt es die Young Tibetan Tigers?"
Stille.
Frage:" Stimmt es,
daß vor allem die jüngeren Mönche zu den Waffen greifen
wollen?"
Der Mönch mit der Digitaluhr bleibt stehen, mitten im Nichts.
Lange Sekunden vergehen. Bestimmt hat er die Fragen garnicht gehört.
Dann fängt er unvermittelt an zu reden: "Wir haben nicht mehr
viel Zeit. Wir brauchen einen Platz um unsere Identität nicht zu verlieren."
Noch einen Augenblick lang herrscht völlige Stille, zwischen den Bergen
im Geröll. "Alles ist nichts; NICHTS ist alles."
Die Digitaluhr, Typ Casio Telememo 30 piepst, einfach so - ohne
Grund. "Die Uhr ist ein Geschenk", sagt Salden. "Sie ist ganz praktisch,
für die Büroarbeit im Kloster.
Sie mißt aber nur die Sekunden als
kürzeste Einheit. Die Tibetaner kennen aber noch eine Unterteilung,
die den sechzigsten Teil einer Sekunde ausdrückt.
Wir brauchen das, weil sich Gedanken so schnell ändern können."
Marcus Kaufhold / 1996
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